DIE EVANGELISCHEKIRCHENGEMEINDE VON1844 BIS 1918VON HANS-BODO THIEME
Vorgeschichte und Gründung der Gemeinde1
Im kurkölnischen Sauerland und damit auch in der Stadt Olpe konnte die Reformation keinen Fuß fassen, und auch in nachreformatorischer Zeit verhinderte die Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens von 1555, daß nämlich der Landesherr über die Konfession der Untertanen bestimme, die Ansiedlung von Protestanten im katholischen Kurköln oder gar die Bildung von evangelischen Kirchengemeinden. Erst die Auflösung des geistlichen Kurfürstentums Köln durch den Reichsdeputationshauptschluß und die Übergabe des Herzogtums Westfalen an protestantische Obrigkeiten, nämlich 1802 an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt und 1816 an den König von Preußen, schufen die rechtliche Voraussetzung für den Zuzug Evangelischer in den Olper Raum. Die nun einsetzende Migration war außerordentlich gering, und so betrug 1818 die Zahl der Protestanten im Stadtgebiet Olpes bei 1616 Einwohnern nur 20 Personen. Im Jahre 1840 waren von 1871 Einwohnern der Stadt lediglich 57 evangelischen Bekenntnisses. Zählt man zu diesen noch diejenigen aus dem Südteil des Kreises Olpe hinzu, die sich allesamt zur Kreisstadt orientierten, so kommt man für das Jahr 1840 auf 135 Evangelische. Die geistliche Betreuung dieser protestantischen Christen erfolgte, wenn überhaupt, von den angrenzenden protestantischen Kirchengemeinden Krombach, Valbert und Wiedenest aus und war wegen der beträchtlichen Entfernungen mit großen Unbequemlichkeiten verbunden. Diese letztlich unhaltbaren Zustände ließen unter den Olper Evangelischen den Wunsch nach Konstituierung einer selbständigen Gemeinde und Anstellung eines eigenen Geistlichen entstehen. Diejenigen unter den Olper Protestanten, die mit viel Geschick und Umsicht und unter Zuhilfenahme mancher Beziehungen darangingen, diese Pläne zu verwirklichen, waren der Druckereibesitzer und Zeitungsverleger Theodor Mietens (1804-1885), der aus Siegen stammende Gewerke Heinrich Kreutz (1808-1879) und der seit 1825 in Olpe ansässige Gerichtsrat Heinrich Lyncker (1798-1876). Mietens wandte sich Ende 1841 an den ihm und auch Lyncker bekannten und bei der Kirchenbehörde in Münster und der Regierung zu Arnsberg über exzellente Beziehungen verfügenden Arnsberger Pfarrer Gustav Bertelsmann und fragte bei diesem nach, wie eine Gemeindegründung in Olpe wohl zu bewerkstelligen sei.
Bertelsmann empfahl in einem Schreiben an Mietens die Zuordnung einer Olper Gemeinde zum Kirchenkreis Siegen: “Siegen und das ganze Land der Bergwerke [muß] Ihnen vornehmlich ein Tyros werden, welches Geld und Arbeiter zum Tempelbau zuführt.” Damit erinnerte Bertelsmann daran, daß der Siegener Kirchenkreis, wohl aufgrund seiner calvinistischen Prägung, vermögend sei und deshalb für diesen auch die Verpflichtung bestünde, einer naturgemäß armen Olper Gemeinde kräftig unter die Arme zu greifen. Im März 1842 bat Lyncker beim Siegener Superintendenten Bender um die förmliche Konstituierung einer Gemeinde in Olpe und vergaß nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß sich “vorerst eine Anzahl von 54 evangelischen Christen, größtenteils Familienväter, ergeben [hat], die zur Besoldung des Pfarrers resp. Lehrers” beitragen wollen. Bender berief daraufhin in Absprache mit der Arnsberger Regierung eine konstituierende Gemeindeversammlung auf den 2. Juni 1842 ein. Bei dieser Zusammenkunft im Eisenbachschen Tanzsaal in der Frankfurter Straße 9 wurde ein provisorischer Kirchenvorstand gewählt, bestehend aus Mietens, Kreutz und dem Salzfaktor Sylvius. Nach diesem ersten wichtigen Schritt im Hinblick auf die Konstituierung einer eigenständigen Gemeinde ging man in Olpe daran, bei den zuständigen geistlichen und weltlichen Behörden die Installierung eines selbständigen Gemeindesystems und die Anstellung eines eigenen Geistlichen zu betreiben. Der mittlerweile angemietete Eisenbachsche Saal wurde zu einer Gottesdienststätte umgestaltet und am 28. Mai 1843 darin der erste evangelische Gottesdienst in Olpe gefeiert. Mietens notierte dazu: “Unser Betsaal war bei der ersten gottesdienstlichen Feier gedrängt voll, und am h(eiligen) Abendmahl nahmen etwa 60 Personen teil.” Auf das Ansinnen der Oberbehörden, daß die Olper eigentlich auf einen eigenen Pfarrer verzichten und auswärtige Geistliche die sonntäglichen Gottesdienste halten könnten, entgegnete das Presbyterium, daß es sich nicht allein “um den sonntäglichen Gottesdienst [handele], sondern auch hauptsächlich um den Unterricht der Jugend, die Ausspendung der Sakramente an Schwache und Kranke, überhaupt um tägliche seelsorgerische Pflege der Gemeinde, welches alles nicht fruchtbar auszuüben ist, wenn der Pfarrer nicht beständig in unserer Mitte lebt.” Der Grund, der die Behörden zögern ließ, Olpe als eigene Pfarrgemeinde zu konstituieren, war finanzieller Natur. Die Olper Protestanten vermochten durch ihr Kirchensteueraufkommen weder einen Pfarrer noch einen Lehrer zu besolden noch die sächliche Unterhaltung eines Pfarrsystems zu gewährleisten. Sie waren demnach auf erhebliche kirchliche und staatliche Zuschüsse angewiesen, die schließlich aufgrund mehrerer Bittgesuche in Höhe von 250 Talern (bis 1845) und 350 Talern (bis 1855) - bei einem eigenen Pfarrstellenbeitrag von 50 Talern - gewährt wurden und einem Geistlichen eine bescheidene Existenz ermöglichen konnten.
Die Arnsberger Regierung besaß, wie damals üblich, aufgrund des landesherrlichen
Kirchenregimentes das Recht der Pfarrstellenbesetzung, ließ das Presbyterium indes wissen, daß man staatlicherseits geneigt sei, diesbezüglichen Wünschen der Gemeinde entgegenzukommen. Der Kirchenvorstand lud daraufhin in der Zeit vom 28. Mai bis zum 13. August 1843 acht Pfarramtskandidaten zu Probepredigten ein und ließ in einer Gemeindeversammlung am 20. August von den wahlberechtigten Gemeindegliedern in geheimer Abstimmung eine Dreierauswahl treffen, die dann über den Superintendenten der Regierung in Arnsberg zur Kenntnis gebracht wurde. Da die Wünsche der Olper Gemeinde mit denen des Superintendenten koinzidierten, Bender favorisierte den Krombacher Kandidaten Johann Georg Manskopf, waren die personellen Voraussetzungen für die Installierung eines evangelischen Pfarrers in Olpe geklärt. Es dauerte jedoch noch acht Monate, bis sich die in die Zuschußfrage involvierten Berliner Ministerien definitiv auf die finanzielle Unterstützung geeinigt hatten, und erst damit war dann der Weg für die Einführung des Pfarrers in Olpe geebnet. Am 27. Oktober wurde Johann Georg Manskopf in einem feierlichen Gottesdienst im Betsaal von Superintendent Bender in sein Amt als erster Pfarrer der evangelischen Gemeinde eingeführt. Die Kirchengemeinde selbst hat seither den 27. Oktober 1844 als ihr Gründungsdatum verstanden und die Auffassung vertreten, diesen Tag “als den eigentlichen Stiftungstag der Gemeinde annehmen zu müssen.”
Größe und Struktur der Gemeinde2
Die evangelische Kirchengemeinde umfaßte ab 1846 die Protestanten in den Städten, Gemeinden und Ämtern Olpe, Drolshagen, Wenden und die im Amt Bilstein lebenden Evangelischen der Kirchspiele Kirchveischede und Rahrbach. 1861 wurden die evangelischen Bewohner der Gemeinde Kirchveischede und 1895 diejenigen von Rahrbach abgepfarrt. Wie gering die Zahl der Protestanten im Vergleich zur Einwohnerzahl, auch in der Kreisstadt Olpe, über viele Jahrzehnte hinweg war, mögen die folgenden statistischen Angaben belegen:
Jahr Stadt Olpe Pfarrbezirk Einwohner evangelisch in % Einwohner evangelisch 1843 1949 80 4,1 12629 177 1858 2086 159 7,6 13689 409 1871 2177 124 5,7 12077 225 1890 3089 149 4,8 13361 198 1905 4478 259 5,8 15996 379
Diese Statistik läßt indes auch erkennen, daß über die Jahre hinweg immer zwischen 40% und 75% der Protestanten in der Stadt Olpe selbst beheimatet waren, somit der außerhalb Olpes lebende Teil außerordentlich vereinzelt und auch vereinsamt in den anderen Kommunen, kleinen Dörfern oder auf Gehöften lebte. Flächenmäßig umfaßte die Gemeinde bis 1861 ein Gebiet von 264 km² und bis 1954 immerhin noch von 216 km². Sie gehört damit, auch gegenwärtig noch, zu den an Fläche größten Gemeinden der westfälischen Kirche. Eine Untersuchung der Berufs- und Sozialstruktur der Gemeinde von ihrer Gründung bis weit in dieses Jahrhundert hinein kommt zu dem Resultat, daß Protestanten, gerade auch die in der Stadt Olpe, kaum im primären Bereich, d.h. in der Land- und Forstwirtschaft, angetroffen werden. Dies hat seinen Grund darin, daß dieser Bereich seit jeher der angestammten Bevölkerung zum Nahrungserwerb diente. Im sekundären Bereich, also dem des warenproduzierenden Gewerbes, das sich mit der Industrialisierung immer mehr ausweitete, hat der evangelische Anteil überproportional zugenommen. Der Zuzug evangelischer Facharbeiter aus dem Siegerland und aus Hessen wird zu dieser Steigerung beigetragen haben. Die bemerkenswerteste Zunahme des protestantischen Bevölkerungsanteils ist im tertiären Bereich, also dem Dienstleistungssektor, zu verzeichnen und hier vor allem in den Bereichen “Handel und Verkehr” und “Öffentliche Dienste”. Die Begründung eines leistungsfähigen Post- und Eisenbahnsystems führte zu einem relativ hohen Bedarf an qualifiziertem Personal, das von auswärts, also überwiegend aus protestantischen Gegenden, in die Kreisstadt verpflichtet wurde. Auch viele nach Olpe versetzte Staatsbeamte aus den Bereichen von Justiz, Polizei, Forst, Fiskus und des Vermessungswesens waren evangelischer Konfession, zumal es preußischer Personalpolitik entsprach, Protestanten in katholische und Katholiken in evangelische Gebiete zu versetzen, um auf diese Weise einer zu schnellen und zu intensiven Integration der Staatsdiener in die Strukturen und Systeme vor Ort vorzubeugen. Allerdings mußte damit auch in Kauf genommen werden, daß diese Staatsbediensteten nach Ablauf einiger Jahre wieder aus Olpe versetzt wurden und somit eine der Kirchengemeinde wenig förderliche hohe Fluktuation entstand. Was die Steuer- und Einkommenssituaton der evangelischen Einwohner Olpes anlangt, so unterschied diese sich nicht grundsätzlich von denen der übrigen Einwohnerschaft. Eine Statistik über das Klassensteueraufkommen verschiedener Jahre zeigt folgendes Bild:
Steuer pro anno Anzahl der evangelischen Steuer- Steuerzahler insgesamt zahler in der Stadt Olpe in Olpe (Taler) 1843 1845 1851 1862 1871 ½ - - 1 - 487 1 4 7 12 7 27 bis 2 10 10 9 4 91 bis 3 2 2 3 2 48 bis 4 2 3 3 4 32 bis 6 - 1 3 3 45 bis 8 1 1 1 1 22 bis 10 - - - 1 17 über 10 - - 1 8 45
Diese Statistik zeigt signifikant, daß sich in der evangelischen Gemeinde, insonderheit, was deren Glieder in der Stadt Olpe anlangt, hinsichtlich des Steueraufkommens und damit des Einkommens von 1843 bis 1862 (und auch darüber hinaus) eine Art “bürgerliche Schicht” herausgebildet und ausdifferenziert hat. Aus diesen Angaben und aufgrund der Tatsache, daß der evangelische Bevölkerungsteil ein etwas höheres Steueraufkommen als der übrige zu verzeichnen hat, darf indes nicht geschlossen werden, daß die Protestanten einen höheren Lebensstandard als die Katholiken aufzuweisen gehabt hätten, denn im Regelfall konnten die Evangelischen keinerlei Land- und Forstbesitz ihr eigen nennen und daher ihre Lebensbedürfnisse nicht durch den Anbau von Garten- und Feldfrüchten oder durch Viehhaltung in gleichem Maße aufbessern wie die Einheimischen. Im Gegensatz zu diesen verfügten viele protestantische Familien dagegen über bescheidene, aber sichere Einkünfte aus der Staatskasse: Des Königs Rock war zwar kurz, aber er wärmte dennoch. Einer besonderen Erwähnung bedarf ein Phänomen, das für die Gemeinde seit ihrer Gründung charakteristisch war und sie bis in die Gegenwart kennzeichnet: eine ungemein hohe Fluktuation infolge permanenter und für eine kleine Kirchengemeinde sehr großer Wanderungsbewegungen. Als Beispiel dafür sei erwähnt, daß von den in einer Steuerliste aus dem Jahre 1843 (bezogen auf die Gesamtgemeinde) aufgeführten 57 Haushaltungsvorständen respektive selbständigen Gemeindegliedern bereits zwei Jahre später 21 nicht mehr in der Steuerliste registriert wurden. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß die überwiegende Zahl verzogen sein dürfte. Fragt man nach den Gründen für solch eine exorbitante Fluktuation, so wird ein Grund in der schon früher skizzierten Personalpolitik der Staatsbehörden zu suchen sein, ein zweiter in einer mäßigen Industrialisierung des Olper Landes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch in den Umstrukturierungen und Zusammenbrüchen von Industrie und Bergbau ab etwa 1860. Als weiterer Grund wird zu bedenken sein, daß mancher Protestant sich in einem vom traditionellen Katholizismus geprägten Gebiet nicht hat zurechtfinden können und deshalb aus Olpe verzog, zumal die konfessionellen Gegensätze gerade im vorigen Jahrhundert von erheblicher Schärfe gewesen waren.
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